Michael Schultheiß, Head of R&D bei Zeit Online
29. September 2017Michael nimmt uns mit in das technische Herz von Zeit Online: die Entwicklungsredaktion. Er zeigt uns, wie sein Team ein neues Moderationsinterface mit React umgesetzt hat, und erklärt, wie bei Zeit Online Trends wie Conversational UI bearbeitet werden.
Vita
Während seines Studiums der Politikwissenschaften und der Jazzgeige verdient sich Michael seine ersten Brötchen bereits als Konzertreporter. Als er das Angebot bekommt, die erste Ausgabe des Palma Kurier herauszubringen, geht er nach Mallorca. Anschließend zieht er nach Berlin und setzt dort Medienprojekte für die Bundeszentrale für politische Bildung um. Mit dem Release von WordPress 2.0 gründet er mit einem Kollegen eine Web-Agentur. Heute arbeitet Michael als Head of R&D bei Zeit Online.
Tools
- Sublime
- Jira, Trello, Wunderlist
- Silverback, Mouseflow
- InVision, Zeplin, Optimizely
- Slack
Social
Recommendations
- Product Hunt
- Newsletter: InsideAI, Mind the Product, Benedict Evans
- Podcast: Harvard Business Review, Recode Media
- Buch: Scrum, Gang Leader For A Day
Hallo Michael, was verbirgt sich hinter deinem Titel?
Mein offizieller Titel lautet auf Deutsch Leiter der Entwicklungsredaktion.
Nicht Entwicklungsabteilung?
Nein, Entwicklungsredaktion. Das hat seinen Ursprung im Print. Die Redaktion, die die erste Ausgabe einer neuen Zeitschrift oder Zeitung entwickelt, nennt man Entwicklungsredaktion. In der deutschen Medienlandschaft gibt es Entwicklungsredaktionen, die nach diesem Vorbild arbeiten. Diese sind meist sehr inhaltlich getrieben und erstellen Inhalte für neue Produkte. Wir sind da ein wenig anders.
Inwiefern?
Wir sind technischer und eigentlich eine redaktionelle Produktentwicklung.
Welche Aufgaben übernehmt ihr als Entwicklungsredaktion bei Zeit Online?
Uns beschäftigt die gesamte Bandbreite, die Zeit Online zu bieten hat. Das reicht von einem verrutschten Label auf der Webseite über die Entwicklung neuer Erzähl-Formate bis zum kompletten Relaunch.
Ich hatte immer das Gefühl, dass wir im Journalismus nicht technisch genug sind.
Außerdem stellen wir die Product Owner für unsere Entwicklerteams und kümmern uns um interne Prozesse. Wie schon gesagt, eigentlich arbeiten Entwicklungsredaktionen sehr inhaltlich. Ich hatte immer das Gefühl, dass wir im Journalismus nicht technisch genug sind. Darum können alle unsere Leute coden und setzen zum Beispiel auch mal einen A/B-Test auf oder schauen über die Konsole, um herauszufinden, wo das Problem liegt.
Wie viele Leute sitzen in der Entwicklungsredaktion?
Wir sind vier Entwicklungsredakteure. Wir arbeiten mit einem freien Designer und der Technik-Abteilung zusammen.
Wie muss man sich deine Arbeit als Leiter der Entwicklungsabteilung vorstellen?
Team-Kommunikation ist sicher der größte Bestandteil meiner Arbeit. Alle meine Teammitglieder haben ihre eigenen Projekte und ich diene als Ansprechpartner und Coach und versuche sie in ihrer Arbeit zu unterstützen. In der Regel habe ich auch ein eigenes Projekt, das einen guten Teil der Arbeitszeit einnimmt. Außerdem gehört es zu meinen Aufgaben, mich auf neue Themen zu stürzen und dann auch mal selbst in die Tasten zu greifen. Ich betrachte mich als Produktmensch. Und das Schöne bei Zeit Online ist, dass das, was man tut, sichtbar ist, da wir mittlerweile über zehn Millionen Uniques haben. Auch die Art der Projekte ist vielfältig.
Wo ist Platz für Innovation in der Entwicklungsabteilung?
Sobald ein neues Produkt oder eine Technologie auftaucht, steht meist schon ein Kollege am Tisch und fragt, ob wir das schon gesehen haben. Unser Team ist aber auch selbst am Puls der Zeit und schaut sich alles an, was es Neues gibt.
Ein-, zweimal im Monat machen wir Workshops mit Design-Thinking-Approach, bei denen wir versuchen, aus der Alltagssituation auszubrechen und mit frischem Blick auf Herausforderungen zu schauen. Im Moment sind für den Journalismus solche Dinge wie Machine Learning, Conversational UI und Bot-Geschichten interessant. Unsere Aufgabe ist es, die Technologiefolgen abzuschätzen und herauszufinden, ob das Thema schon für uns interessant ist. Dafür bauen wir dann auch mal einen Prototypen, meist erst auf dem Papier. Manchmal ist er dann aber auch High Fidelity.
Wir kommen jetzt an die Stelle des Interviews, an der du an einem Beispiel erklären kannst, wie eine Produktentwicklung bei euch aussieht.
Da habe ich drei Projekte anzubieten. Das erste wäre der große Relaunch von Zeit Online. Das war das größte Projekt, an dem ich bisher an der Umsetzung maßgeblich beteiligt war.
Wann war das?
Vor zwei Jahren, im September 2015.
Das zweite Projekt wäre genau das Gegenteil: „Deutschland spricht.“ Das war mehr ein Experiment, das wir mit ein paar Python-Scripten realisiert haben und das wir komplett in der Entwicklungsredaktion umgesetzt haben.
Um was ging es da?
Die Idee war, Menschen mit ganz unterschiedlichen politischen Ansichten ins Gespräch zu bringen. Sie sollten sich in echt treffen und uns davon berichten, wenn das Treffen tatsächlich stattgefunden hatte.
Was ist das dritte Projekt?
Das dritte Projekt, das ich vorschlagen könnte, wäre das Redesign der Administrationsoberfläche unseres Moderationstools. Das ist ein internes Tooling-Projekt. Dazu kann ich etwas von unserem Prozess erzählen, und das Projekt ist nicht so groß wie unser Relaunch.
Dann lass uns das gerne nehmen. Wer hatte die Idee für das Redesign?
Die Idee war eher ein Nutzerbedürfnis. Wir sind ja eine der Redaktionen, bei denen unter den Artikeln kommentiert werden darf. Das bedeutet aber auch, dass wir ein sehr großes Moderationsteam brauchen, da wir je nach Thema sehr viele Kommentare bekommen. Für eine gewisse Menge an Kommentaren klappte das auch relativ gut. Um mit dem Wachstum klarzukommen, musste sich Zeit Online aber etwas einfallen lassen, damit das System schneller und komfortabler wird.
Was war der erste Schritt bei diesem Projekt?
Zusammen mit den Moderatoren haben wir einen Design-Thinking-Workshop gemacht. Wir haben uns in den Veranstaltungsraum eingeschlossen und Fragen gestellt wie: Was muss das System können? Welche Funktionen braucht ihr? Wie müsste das System aufgebaut sein?
Schritt zwei war dann eine klassische Impact-Effort-Map, auf der wir mögliche Lösungen eingetragen haben. Leider mussten wir feststellen, dass alle Features, die wir machen wollten, in einem Quadranten waren, der zwar einen großen Impact hatte, aber auch großen Aufwand bedeutete. Durch die Map haben wir gesehen, dass es keine zwei, drei kleinen Tricks gibt, mit denen wir das System plötzlich superschnell machen können. Gemeinsam mit der Chefredaktion haben wir dann beschlossen, die Administrationsoberfläche neu zu machen.
Der erste Workshop diente also dazu, die Möglichkeiten herauszuarbeiten. Wie ging es dann nach der Entscheidung weiter?
Wir haben einen zweiten Workshop gemacht und dort einen Papierprototypen gebaut, damit wir uns besser vorstellen konnten, wie das funktionieren könnte. Wichtig war, dass wir die Nutzer immer mit dabei hatten. Das heißt, es nahmen auch Moderatoren teil, die Power-User, die aktiv mitgearbeitet haben. Nach dem Low-Fidelity-Prototyping habe ich mich mit einem Designer zusammengesetzt und wir haben uns gefragt, in welcher Design-Sprache das Tool gebaut sein muss. Wie sieht die Informationsarchitektur aus? Gerade bei einer Oberfläche, auf der Tonnen von Informationen dargestellt werden sollen, ist das sehr wichtig.
Der nächste Schritt war der High-Fidelity-Prototyp. Unsere Hypothese war: Wir machen die Moderation einfacher und schneller, indem wir die Informationsarchitektur überarbeiten, den Clutter herausnehmen und Klickwege optimieren. Unser Ziel war es, dreimal schneller zu werden.
Wie habt ihr den Prototypen umgesetzt?
Bei der Überlegung, welche Technologie wir dafür nutzen wollen, war klar: React ist die Technologie der Wahl. Einer unserer Kollegen hatte Lust, sich in React einzuarbeiten, und hat dann mit Bootstrap und React angefangen zu bauen. Dafür haben wir ihm drei Wochen Zeit gegeben, was relativ viel ist. Aber uns war das wichtig.
Unsere zweite Hypothese war, die Moderation in-stream umsetzen zu können. Das bedeutet, wir wollten eine Art Timeline umsetzen, bei der alles auf einer Seite stattfindet. Vor allem für die Edge-cases mit 1500 Kommentaren sollte das funktionieren.
Bis dahin waren die Infos noch gefaked, wir verwendeten also noch keine echten Inhalte. Nach drei, vier Iterationen und einigen kleineren Anpassungen haben wir festgestellt, dass wir mit unseren Hypothesen richtig lagen. Daraufhin haben wir ein Team aus zwei Frontend- und zwei Backend-Entwicklern zusammengestellt. Der Designer war auch mit auf dem Team.
Mit welcher Projektmanagement-Methode habt ihr das Projekt begleitet?
Bei diesem Projekt haben wir Scrum genommen.
Welche Methode verwendet ihr sonst?
Das hängt immer davon ab, um was für ein Projekt es sich handelt und wie groß das Team ist. Wir nutzen sonst Scrumban relativ häufig.
Wer hatte bei diesem Projekt die Rolle des Scrum-Masters?
Unser Product Owner hat bei diesem Projekt auch die Rolle des Scrum Masters übernommen. Das war der Kollege, der den Prototypen in React gebaut hat. Er hat sich dann mit den Entwicklern zusammengesetzt und die Milestones in Tickets heruntergebrochen.
Wie ist der Stand des Projekts?
Wir sind noch dabei, es umzusetzen. Wenn meine Schätzungen stimmen, dürften wir es etwa bei Veröffentlichung des Interviews geschafft haben. Was wir parallel dazu machen, sind UX-Tests mit den Moderatoren nach jedem Milestone. Dabei haben wir zum Beispiel mal bemerkt, dass wir an einer Stelle ein anderes Icon nehmen müssen, weil sie nicht verstanden haben, um was es ging.
Anmerkung der Redaktion: Das System ist am 18. September 2017 live gegangen und befindet sich seit dem im Parallelbetrieb.
Welches Ticketsystem habt ihr dafür verwendet?
Wir nutzen hauptsächlich Jira. Für die UX-Tests nutzen wir schon seit Ewigkeiten das Programm Silverback von der britischen Agentur Clearleft. Außerdem haben wir ein Tool namens Mouseflow für Mouse- und Clicktracking. Über eine Heatmap sehen wir dann, ob wir die Klickstrecken optimiert haben.
Welche anderen Tools verwendet ihr?
Sublime nutze ich zum Programmieren, aber auch um Blog-Posts zu schreiben. Für die Team-Kommunikation nutzen wir Slack.
Im Moment nutzen wir noch Trello und Wunderlist. Aber so wie es aussieht, werden wir bald wechseln. Selbstverständlich nutzen wir auch noch physische Boards. InVision, Zeplin und Optimizely nutzen wir auch. Irgendwie haben wir alles schon mal gehabt, was man sich nur vorstellen kann.
Lass uns ein wenig über deinen Werdegang sprechen. Siehst du dich als Journalist oder als Entwickler?
Ich kann gut mit Technologie, ich programmiere, seit ich zwölf Jahre alt bin, und habe den größten Teil meiner Adoleszenz vor einem Grünmonitor verbracht.
Was war dein erster Computer?
Ein C64. Das ist immer eine Generationsfrage. Natürlich habe ich viel damit gespielt. Und obwohl ich immer viel mit Technologie zu tun hatte, wollte ich auch immer Journalist werden.
Was hast du studiert?
Ich habe Politikwissenschaften und Musik studiert. Musik war dann auch der Bereich, mit dem ich journalistisch begonnen habe. Ich war jung und brauchte das Geld. Ganz klassisch mit Auto und Kamera ausgestattet, habe ich Konzerte abgegrast. Bin eine Weile in Straßburg gewesen und habe Pop- und Rockmusik rezensiert und dann mein erstes Jobangebot bekommen. Dabei ging es darum, Teil der Entwicklungsredaktion einer ganz neuen, deutschsprachigen Zeitung auf Mallorca zu sein.
Wie alt warst du da?
Anfang zwanzig. Es war auch damals schon so, dass ich der Go-to-Guy war, wenn irgendwas mit der Technik nicht stimmte. Das war zu der Zeit, als der Shift in der Medienwelt durch das Internet begann. In dem Moment war für mich klar, dass ich etwas mit einer Kombination aus Journalismus, Konzeption und Technik machen wollte.
Welche weiteren Stationen gab es bis zu Zeit Online?
Nach Mallorca bin ich nach Berlin gegangen und habe mich hier in die digitale Szene reingearbeitet. Ich bin dann relativ schnell bei der Bundeszentrale für politische Bildung hängen geblieben, für die wir viel mit neuen Medien ausprobiert haben. Beim Think-Tank politik-digital.de haben wir beispielsweise Politiker-Chats für tagesschau.de umgesetzt.
Chatten war der heiße Scheiß!
Genau. Und da ich Politikwissenschaften studiert habe, war das ein interessantes Medium. Denn es war durch die Tagesschau nah an der Politikwelt, es war journalistisch und eine neue Technologie.
Die letzte große Station war dann die Gründung einer Agentur zusammen mit einem Kollegen. WordPress 2.0 war gerade herausgekommen und wir hatten uns überlegt, kleinen und mittelgroßen Unternehmen schicke Webseiten auf WordPress-Basis zu verkaufen. Das klappte auch ganz gut. Nur reich geworden sind wir damit nicht. Als dann das Angebot von Zeit Online kam, war es Zeit für mich, ein neues Kapitel aufzuschlagen.
Mit Blick auf deinen Werdegang: Was würdest du jungen Leuten heute empfehlen, wenn sie einen ähnlichen Job wie du machen wollen?
Ich glaube, es gibt kein Studium und keine Ausbildung dafür, wenn du im journalistischen Bereich Produktentwicklung machen willst. Ich erkläre das gern so: Stellt euch vier große Kreise vor: Journalismus, Programmierung, Produktmanagement und Design. Unsere Arbeit befindet sich in der Schnittmenge dieser vier Kreise. Und wenn jemand bei uns anfangen möchte, dann sollte er mindestens zwei Kreise richtig gut können und die anderen beiden ein bisschen. Im Grunde fängst du mit einem Kreis im Studium an und entwickelst dich weiter zu den anderen Kreisen. Entweder kommst du aus dem technischen Bereich und entwickelst dich in Richtung Journalismus. Oder du kommst aus dem Journalismus und entwickelst dich in Richtung Technik.
Gibt es etwas, das in deinem Job immer wieder falsch gemacht wird? Im Vergleich mit anderen Medienhäusern, mit anderen Zeitungen?
Prinzipiell möchte ich mir kein Urteil darüber erlauben, was andere wie machen und warum. Wenn ich mir an die eigene Nase fassen würde, wäre es das: Wir sprechen zu wenig mit unseren Nutzern. Wir müssen das immer wieder tun, uns immer wieder selbst daran erinnern, dass nur die Nutzer wirklich die Antworten darauf haben, was ein gutes Produkt ist.
Was motiviert oder inspiriert dich bei der Arbeit?
Mich inspiriert vor allem die Arbeit mit Leuten, die für eine Sache brennen. Wenn man mit solchen Leuten an Produkten wie „Deutschland spricht“ arbeiten kann, dann ist das, glaube ich, die Voraussetzung für fantastische Dinge und für tolle und berührende Momente.
Mit welchen Medien hältst du dich auf dem Laufenden? Welche Medien kannst du für deinen Bereich empfehlen?
Jeden Morgen ist das Erste, was ich mir im Browser ansehe, das Grid von Product Hunt. Ich habe eine Handvoll Newsletter abonniert, zum Beispiel „InsideAI“ von Rob May, den Mind-the-product-Newsletter und den Newsletter von Benedict Evans.
Ansonsten höre ich sehr gerne Podcasts. Ich liebe zum Beispiel den Harvard-Business-Review-Podcast für den organisatorischen Krempel und den Recode-Media-Podcast von Peter Kafka.
Zwei Bücher kann ich empfehlen. Beides sind Klassiker, die ich erst neulich wiederentdeckt habe: zum einen „Scrum“ von Jeff Sutherland. Und „Gang Leader For A Day“. Darin geht es um einen Soziologen im ersten Semester, der in eine Gang hineinstolpert und darüber ein Buch schreibt. Eine tolle Geschichte, die einem viel über Leadership erzählt.
Lieber Michael, vielen Dank für das Interview.
Dieses Interview wurde am 4. Juli 2017 in den Räumlichkeiten von Zeit Online in Berlin geführt.
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