Tim Herbig, Produktmanagementcoach, über die Messung des Fortschritts auf Basis schneller anpassbarer Parameter
02. März 2022Wie lassen sich Projektziele vernünftig messen? Immer wieder stellen sich Teams zu vage Ziele, die nur die Vergangenheit bewerten helfen, aber kaum Hilfen für die Zukunft ermöglichen. Tim Herbig, Produktmanagementcoach und -moderator, stellt in seinem Vortrag auf dem Digitale Leute Summit 2021 ein Konzept vor, mit dem Messgrößen flexibel und ständig anpassbar direkt in der operativen Arbeit helfen können.
→ Hier findest du die komplette Aufzeichnung seines Talks
- In diesem Text lernt ihr
- Wie der klassische Zielprozess angepasst werden kann
- Was Leading und Lagging Indicators sind
- Worin der Nutzen einer solchen Unterscheidung liegt
- Wie sich das Konzept aufs Projektmanagement übertragen lässt
- Wie sich Lagging und Leading Indicators auf den verschiedenen Unternehmensebenen unterscheiden lassen.
Der typische Zielprozess
Tim Herbig beschreibt zunächst einen typischen Entwicklungsprozess, „bei dem wir für eine sehr lange Zeit das Produkt entwickeln“, so Tim. „Und im Anschluss kommt möglicherweise der Punkt, an dem wir etwas messen und etwas lernen wollen.“ Und dann wiederholt sich eine lange Phase der Entwicklung.
Diesen Prozess, schlägt Tim vor, sollte man verändern, nämlich die Entwicklung kürzer halten und dafür schneller etwas messen und lernen. Im Prinzip wird der Wechsel zwischen Entwicklung und Messen/Lernen beschleunigt. „Dadurch kann man den Fortschritt viel früher messen und man kann die Entwicklung ebenfalls viel früher anpassen.“
Tim Herbig schildert dazu Konzept der „lagging“ – nachfolgenden – und „leading“ – leitenden – Indikatoren. Damit sollen neue Messgrößen gefunden werden.
Neue Messgrößen finden
Tim führt dieses abstrakte Konzept anhand eines Beispiels aus: Joshua Seiden beschreibt in seinem Buch, wie in einem Matratzengeschäft andere Messgrößen jenseits von Umsätzen gefunden werden konnten.
- Schlüsselgröße: Die Schlüsselgröße ist hier die Anzahl der verkauften Matratzen pro Monat. Diese Größe sei ultimativ und man könne schwer den Wandel in dieser Metrik abbilden, so Tim. Außerdem könne man nicht am Monatsanfang vorhersagen, wie viele Matratzen am Monatsende verkauft sein werden. „Deshalb kann es schwierig sein, das tägliche Business so anzupassen, damit man die Verkäufe steigert“, so Tim.
- Muster finden: Was ist das gemeinsame Muster bei den Käufern einer Matratze? Was ist der Unterschied zu denen, die die Matratze nicht kaufen? Dazu können Kunden beobachtet und nach Verhaltensmustern gesucht werden. Beim Beispiel wurde beobachtet, dass Käufer häufiger ein Verkaufsprospekt mitnehmen und auf einer Matratze Probe liegen.
- „Leading Indicator“/Leitenden Indikator bestimmen: Die recherchierten Verhaltensmuster dienen nun als neue Indikatoren für Erfolg.
Solche „Leading Indicator“ – leitenden Indikatoren – haben demnach bestimmte Eigenschaften:
„Leitende Indikatoren ermöglichen es, die Zukunft vorherzusagen. Sie sind schwer zu erstellen, aber aufgrund ihres Vorhersagewerts lohnenswert.“
In der Gegenüberstellung zwischen Lagging und Leading Indicators stellt sich heraus, dass sie polarisierend sind:
- Einfach zu bestimmen vs. komplizierter zu ermitteln,
- Unempfänglich für das Handeln des Teams und schwerer zu ändern vs. Teamhandeln kann dadurch direkt gemessen werden,
- Vergangene Ergebnisse werden dargestellt vs. es ist möglich, zukünftigen Erfolg zu bestimmen.
„Es ist im Grunde ein Spiel zwischen der ultimativen Gewissheit und einem reaktionsschnellen Feedback“, so Tim zusammenfassend.
Buchempfehlung: Joshua Seiden: „Outcomes Over Output: Why customer behavior is the key metric for business success“, 2019, https://www.joshuaseiden.com/
Beispiel: E-Mail-Marketingplattform mit neuen Messgrößen
Natürlich lassen sich diese Ideen auch gut auf Bereiche adaptieren, in denen Projektmanagement praktiziert wird. Am Beispiel einer E-Mail-Marketingplattform beschreibt Tim das Prinzip der Lagging Indicators, und wie daraus Leading Indicators werden können:
Lagging Indicator | Leading Indicator |
50-prozentiger Zuwachs der Nutzer, die ein bestimmtes Tool verwenden. „Das lässt sich messen, aber es verändert sich vermutlich sehr langsam“, so Tim. | Kunden drücken ihre Präferenz für ein Tool in einer Umfrage aus. |
100 Prozent Wachstum unter allen Kunden mit 5 oder mehr Integrationen innerhalb ihrer ersten 10 Tage auf der Plattform. | 50 Prozent mehr Kundenbesuche auf der Integrationswebsite, 30 Prozent weniger verbrauchte Zeit über alle Seiten des Integrationsprozesses. |
50 Prozent mehr Umsatz in einer E-Mail-Kampagne, nachdem eine Integration aktiviert wurde. | 30-prozentige Erhöhung der E-Mail-Auslieferung, 40-prozentige Verbesserung der Klickrate. |
Übertragung des Modells auf das Projektmanagement
Tim überträgt nun diese Überlegungen auf Messgrößen für das Projektmanagement. Auch hier unterteilt er in Lag und in Lead. Zu Leading Indicators im Projektmanagement zählt er:
- Input-orientierte Messgrößen, wie etwa die aufgebrachte Arbeitszeit, um einen Banner zu gestalten,
- Output-orientierte Messgrößen, wie etwa die Anzahl der produzierten Banner.
Eine Mischung ergibt sich – je nach Herangehensweise – bei Outcome-orientierten Messgrößen. Sie können entweder Lagging oder Leading Indicators sein: „Abhängig vom Businessmodell spiegelt zum Beispiel die Anzahl der aktiv genutzten Integrationen pro Nutzer eine spezielle Verhaltensänderung wider“, so Tim Herbig. „Aber wie schnell sich diese verändert, hängt vom eigenen Unternehmen ab.“ Und in diesem Sinn könne die Auswertung „zu lange dauern“, so Tim. Dann ist es eben ein Lagging Indicator.
Der ultimative Lagging Indicator im Projektmanagement sind Impact-orientierte Messgrößen. Als Beispiel nennt Tim die insgesamt erzielten Abonnentenumsätze. Diese seien oftmals eine Erwartung des Unternehmens. Aber eingesetzt würden dafür viele Teams über viele Wochen. Deshalb seien sie nicht gut geeignet für Produktentwicklungsteams, um deren Handlungen und Pläne zu justieren.
Einsatz der neuen Messgrößen in der Praxis des Projektmanagements
„Du musst ein Ziel definieren, welches für deine tägliche Arbeit hilfreich ist“, empfiehlt Tim. Und dazu zählen in der Regel nicht outcome-orientierten Lagging Indicators. Tim bietet dazu eine Visualisierung an, die versucht, übliche Messgrößen im Projektmanagement in das Schema einzuordnen.
Output- oder outcome-orientierten Lagging-Messgrößen haben so den Nachteil, dass sie sich nur schwer anpassen lassen und dass sie auch kein rechtzeitiges Eingreifen ermöglichen, wenn etwas nicht funktioniert. Als Beispiele nennt Tim hier einen realisierten MVP als Output-Messgröße und 10.000 Euro neuer Umsatz als Outcome-Messgröße.
Bei den Leading-Messgrößen unterscheidet Tim ebenfalls zwischen Output und Outcome. Zu output-orientierten Messgrößen zählen klassische Arbeitslisten, also zum Beispiel fünf durchgeführte Nutzerinterviews. Er sieht den Hauptnutzen aber bei den outcome-orientierten Beispielen – wie etwa „67 Prozent Erfolgsrate beim Usability Test“ -, „weil sie die kontinuierlichen Veränderungen aufzeigen“. Es gehe dafür bei einem Team eben nicht um Perfektion, sondern darum, zu sehen, wo man gerade steht, „und was du machen kannst, um die Art und Weise zu verändern, wie ein Ziel erreicht werden kann“.
Um eben diese Konkretisierung hinzubekommen, rät Tim zum Nachfragen:
- Warum? Damit können aus output-orienntierten Lagging Indicators dann outcome-orientierte generiert werden. Warum möchtest du die Software ausrollen?
- Was? Um aus einem outcome-orientierten Lagging Indicator einen Leading Indicator zu generieren, muss nach dem Was gefragt werden. Was für Schritte müssen Nutzer abschließen, um ein gutes Ergebnis zu erzielen? Die Frage ermöglicht Annahmen über die Zukunft, denn hier können ganz konkret Dinge abgeleitet werden, die verbessert/getestet werden können.
Prozess zur Generierung von Leading Indicators
Tim schlägt zum Herausfinden von Leading Indicators aus bestehenden Lagging Indicators vor, eine umgekehrte Customerjourneymap anzulegen. Ganz rechts steht dabei ein Lagging Indicator. Und durch Fragen entstehen Leading Indicators. „Dazu musst du ein Verständnis von deinem Nutzer haben“, sagt Tim. „Du kannst es nicht aus dünner Luft generieren.“ Sprich: Es ist sinnvoll, mit Nutzern zu sprechen.
Als Beispiel dafür führt Tim wieder die E-Mail-Kampagnen-Plattform an. Aus der Messgröße „Installierte Integrationen“ wird daraus nach und nach:
- Heruntergeladene Integrationen -> Aufrufe der Details über die Integration.
- Benötigte Schritte, um die Autorisierung durchzuführen -> durch dritte Parteien initiierte Autorisierungen.
„Es geht darum, eine breitere Auswahl an möglichen Messgrößen zu etablieren“, so Tim. „Und nicht darum, sofort die eine richtige Messgröße zu finden.“
Eingeordnet in die Lagging/Leading-Output/Outcome-Matrix, zeichnet Tim diesen Findungsprozess anhand eines Beispiels nach: So kann der Ausgangspunkt durchaus ein Leading Indicator – 5 in-App-Promotionsbanner verwirklichen – sein, bei dem nach der Präzisierung zunächst eine Messgröße herauskommt, die nicht sonderlich gut beeinflussbar ist, und vor allem eher ein Abbild der Vergangenheit darstellt, beispielsweise „2,8 aktive Integrationen pro Kunde“.
Es entsteht hier also zunächst ein Lagging Indicator, der durch weiteres Nachfragen und Präzisieren zu mehreren konkreteren Leading Indicators führt, zum Beispiel „30 Prozent Downloads“ oder „4,8 Aufrufe der Integrationsdetailseite pro Kunde“. „Es wird dadurch zu einer Messgröße gewechselt, die reaktionsfreudiger ist und sich somit besser beeinflussen lässt“, so Tim. „Dadurch können häufiger Kurs- oder Priorisierungsveränderungen durchgeführt werden.“
Betrachtung über die verschiedenen Unternehmensebenen hinweg
Alle Ziele sollen die Unternehmensstrategie in tägliche Aufgaben übersetzen, so Tim. Ausgehend davon „ist es angemessen, die Lagging Indicators auf der Unternehmensebene zu verwenden“. Der Grund ist, dass man hier die Messgrößen auch nicht allzu häufig ändern will. „Aber je tiefer man geht, desto mehr möchte man output- oder outcome-spezifische Messgrößen etablieren“, so Tim.
Tim verdeutlicht das wieder an einem Beispiel, bei dem Messgrößen von der Unternehmensebene – „Net Promoter Score von 85 für alle neuen Bestellungen“ – auf Abteilungsebene – vielleicht Anzahl der mobilen, Tablet- und Desktop-Nutzer – und schließlich in die Teamebene transferiert werden – etwa „Einfachere Fortführung eines gestarteten Kurses“. Um sie dann in den nächsten Schritten noch weiter herunterzubrechen auf am Ende sehr konkrete Ziele, wie etwa, dass versucht wird, dass 80 Prozent der Nutzer ihre Benachrichtigungseinstellungen ohne Hilfe verändern können.
Tim schlägt vor, dass dazu Teams mehr auf wirklich messbare Zahlen setzen und dazu zum Beispiel Qualitätskriterien für Recherchen, Ideation oder Überprüfungen festlegen sollten. Sie sollten sich auch Gedanken darüber machen, was erhoffte Resultate aus einer Kundeninteraktion sind. Und auch die Identifizierung spezieller Verhaltensformen als Indikator für einen Erfolg sollten definiert werden, wie zum Beispiel Opt-In-Raten für einen Betatest. „Man sollte konkret werden bei der Auswahl der Messgröße, die den Fortschritt anzeigen sollen“, so Tim Herbig.
Auf dem Digitale Leute Summit 2021 in Köln hat Tim Vorschläge gemacht, wie man flexiblere und schneller anpassbare Messgrößen verwenden kann, damit in der operativen Arbeit nachweisbare und schnell adaptierbar Erfolg ermittelt werden kann.
Über Tim Herbig: Tim Herbig ist Produktmanagementcoach und -moderator. Er arbeitet seit über 10 Jahren in verschiedenen inhouse und beratenden Rollen als Produktmanager und Head of Produkt. Als Coach hat er sich weltweit etabliert und legt seinen Schwerpunkt auf die Verbindung von Empathie und Struktur, sowie die Vermittlung verschiedener Fähigkeiten für die Produktstrategie, -ziele und -findung.
Autor: Jörg Stroisch